Zwischen Krise und Hoffnung
Linda Zervakis im Interview: Die Moderatorin über Bildungskrise und Wehrpflicht
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von Linn P.In ihren neuen Reportagen widmet sich Linda Zervakis zwei der drängendsten Fragen unserer Zeit: der Bildungskrise und der Verteidigung. Im Interview spricht sie darüber, warum sie Geschichten heute lieber tiefgründig erzählt, was sie an Deutschlands Schulen schockiert hat - und was ihr trotzdem Hoffnung macht.
Von der "Tagesschau" zu Primetime-Reportagen: Wie sehr ist es für dich eine Bereicherung, Themen nicht mehr in einer Viertelstunde erzählen zu müssen, sondern jetzt wirklich Zeit zu haben, um Geschichten tiefgründiger zu beleuchten?
Linda Zervakis: Oh, das kann man nicht wirklich miteinander vergleichen. Diese Viertelstunde um 20 Uhr war immer etwas ganz Besonderes für mich, weil es so eine Art heilige Viertelstunde war, in der ich die Taktgeberin war für die Inhalte, die da kamen. Es war wie ein Ritual. Die Dokus, die ich jetzt gedreht habe, waren dagegen wie Abenteuerfahrten. In so viele unterschiedliche Länder und Städte zu reisen und so viele tolle Menschen kennenzulernen, war unglaublich inspirierend. Ich hoffe, das wird es auch für die Zuschauerinnen und Zuschauer.
Am 17. Mai 2013 moderierte sie erstmals die 20-Uhr-Ausgabe der "Tagesschau" und blieb bis 2021 fester Bestandteil des Moderationsteams.
Bild: imago images/Eventpress
Im Herbst startest du gleich mit zwei neuen Reportagen - eine zur Bildungskrise und eine zum Thema Verteidigung. Wie kam es, dass du dich mit diesen zwei Themen auseinandersetzen wolltest?
Linda Zervakis: Es sind einfach zwei superwichtige Themen unserer Zeit. Zur Bildung hören und lesen wir meistens nur negative Meldungen. Angefangen beim Lehrermangel bis hin zu der Meldung, dass in Deutschland jedes Jahr 50.000 Jugendliche das Schulsystem ohne Abschluss verlassen. Und dann der PISA-Schock vor zwei Jahren. Deutschland schneidet so schlecht ab wie nie zuvor und das, obwohl unser Land sich ja als "Bildungsnation" begreift. Als Land der Dichter und Denker, der Erfinder und Ingenieure. PISA sagt etwas anderes. Da stellt sich doch automatisch die Frage: Was läuft da schief? Wie sollen junge Menschen in einer immer komplexeren Welt bestehen, wenn wir ihnen nicht einmal die grundlegenden Werkzeuge mitgeben? Und was können wir tun, um was zu ändern? Haben wir etwas gelernt aus dem Debakel? Wie machen das eigentlich andere Länder wie Singapur (Platz 1) oder Estland (Platz 1 in Europa)?
Es geht ja nicht nur um Soldaten und Panzer, sondern um die Frage, wofür wir als Gesellschaft überhaupt einstehen.
Und bei der Verteidigung ist es ähnlich komplex. Seit es keine Wehrpflicht mehr gibt, fehlt vielen komplett der Bezug zu diesem Thema. Um uns herum herrscht überall Krieg. Die Ukraine liegt gerade mal zwei Flugstunden von uns entfernt, wir sichten ständig Drohen im europäischen und deutschen Flugraum. Was machen wir, wenn sich der Krieg ausweitet und Russland uns eines Tages vielleicht doch angreift? Wir reden über Zeitenwende und geopolitische Verantwortung - aber was konkret bedeutet Verteidigung eigentlich im 21. Jahrhundert? Es geht ja nicht nur um Soldaten und Panzer, sondern um die Frage, wofür wir als Gesellschaft überhaupt einstehen.
Am Ende müssen wir uns, wie zum Thema Bildung, die zentrale Frage stellen: Sind wir wirklich bereit, Verantwortung für unsere Zukunft zu übernehmen - oder reden wir nur darüber?
Du hast dir angesehen, wie groß die Bildungskrise in Deutschland wirklich ist - was hat dich dabei am meisten schockiert?
Linda Zervakis: Der Lehrkräftemangel ist schon immens. Es fällt so viel Unterricht aus. Auch die schlechte Ausstattung vieler Schulen ist ein Problem. In Brennpunktschulen kommen weitere Probleme hinzu, insbesondere, dass dort oft Kinder sitzen, die mäßig bis gar kein Deutsch können. Das müssen natürlich die Lehrer wieder irgendwie auffangen, wenn es sie denn gäbe … ein Teufelskreis.
Bildung sollte nicht von der Postleitzahl abhängen, tut sie aber. Sie hängt von der Ausstattung der Schule ab, von der Verfügbarkeit von Lehrkräften und in gewisser Weise auch von der Zusammensetzung der Schülerschaft.
Die Reportage heißt "Raus aus der Bildungskrise!" - gibt es konkrete Lösungsansätze, die dir Hoffnung machen?
Linda Zervakis: Unbedingt! Wir haben Schulen besucht, die sehr interessante Lösungsansätze für sich gefunden haben. Wie beispielsweise die Rütli-Schule. Vor gut zwanzig Jahren galt diese Neuköllner Hauptschule als Inbegriff für das Versagen des Schulsystems. Es gab einen Brandbrief der Lehrerinnen und Lehrer, der öffentlich wurde. Inzwischen ist aus dieser Brennpunktschule eine vorbildliche Gemeinschaftsschule geworden - mit einem eigenen Campus, integrierten Kitas, Jugendclubs und einem Elternzentrum. Für die Schule gibt es inzwischen mehr Anmeldungen als Plätze.
Ein weiteres Beispiel ist eine Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg, an der es keine Klassenräume mehr gibt, keine Schulbücher und - Achtung - keinen Unterricht. Was total absurd klingt, funktioniert dort tatsächlich. Ohne zu viel vorwegzunehmen: Das Zauberwort dort heißt "reziprokes Lernen". Das heißt, Schüler lernen dort nicht nur von Lehrern, sondern auch von älteren Schülern. Es läuft fast alles digital. Die Schüler arbeiten durchgängig mit Tablets und können immer und überall auf die Lerninhalte zugreifen. Jede Schülerin, jeder Schüler entscheidet selbst, in welchem Tempo sie oder er lernen will.
Was war dein erster Gedanke, als du wieder in einer Schule stand?
Linda Zervakis: Das kam auf die Schule an. In einigen Schulen roch es noch wie zu meiner Schulzeit. Da stellte sich bei mir eine sofortige Schockstarre ein. Wenn ich aber an so einer Schule bin wie der eben beschriebenen Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg, würde ich mich glatt freiwillig noch mal anmelden.
Mehr Sendungen mit Linda Zervakis auf Joyn
Gab es einen Moment, der bei dir besonders hängen geblieben ist?
Linda Zervakis: In Singapur ist das Schulsystem wirklich extrem anders als bei uns. Da habe ich Schüler getroffen, die nach einem Zwölf-Stunden-Schul-Alltag on top noch zur Nachhilfe müssen, damit sie nicht durchs Raster fallen. Singapur landet nicht durch Zufall auf Platz 1 der PISA-Studie. Die Frage ist nur, zu welchem Preis. Wenn die Kinder ihren Grundschulabschluss machen, so mit zwölf Jahren, dann nehmen sich viele Mütter ein halbes oder sogar ein ganzes Jahr frei und kümmern sich nur darum, dass die Kinder gesund essen, genug schlafen und sich optimal auf ihre Tests vorbereiten. Das übt natürlich auch einen enormen Druck auf die Kinder aus.
Für deine Reportage zum Thema Verteidigung warst du selbst auf dem Schießstand. Was hat das mit dir gemacht, selbst eine Waffe in der Hand zu halten und zu schießen?
Linda Zervakis: Ich habe vorher gedacht, ich sei darauf vorbereitet - rational, analytisch. Aber diese Waffe in der Hand zu halten, war etwas total Surreales. Ich hatte auf einmal ungeheuren Respekt davor. Nicht aus Angst, sondern weil mir bewusst wurde, welche Grenze man hier überschreitet - von der Theorie zur Praxis. Zu wissen, dass man mit einer solchen Waffe einen Menschen töten könnte.
Ich komme aus einer Generation, die mit dem Gefühl aufgewachsen ist, Frieden sei der Normalzustand. Die Abschaffung der Wehrpflicht hat dieses Gefühl noch verstärkt. Und plötzlich stehst du da mit einer Waffe in der Hand und merkst, wie weit wir uns gesellschaftlich von dieser Gewissheit entfernt haben. Ein Krieg ist eben nicht mehr undenkbar. Und genau deshalb müssen wir darüber sprechen. Und wir müssen uns die Frage stellen, wer bereit ist, den Schutz, die Verteidigung zu übernehmen?
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Du hast dich in deiner zweiten Reportage mit Bedrohungslagen beschäftigt - was war für dich das Überraschendste an dieser Recherche?
Linda Zervakis: Überrascht hat mich vor allem, wie selbstverständlich die Finnen mit dem Thema Sicherheit umgehen. Finnland hat eine über 1.300 Kilometer lange Grenze zu Russland - und trotzdem gelten die Menschen als das glücklichste Volk der Welt. Das wirkt im ersten Moment paradox. Wie schaffen die Finnen es, trotz dieser unmittelbaren Bedrohungslage wieder den ersten Platz des diesjährigen World Happiness Reports zu belegen?
Vielleicht liegt es daran, dass sie die Bedrohung nicht verdrängen, sie integrieren sie in ihren Alltag. In Finnland ist es völlig normal, dass Frauen und Männer auf Schießübungsplätzen trainieren. Nicht aus Militarismus, sondern aus dem Bewusstsein heraus: Wenn etwas passiert, müssen wir vorbereitet sein - nicht paralysiert.
In Helsinki habe ich Schutzräume besucht, unterirdische Bunker. 5.500 gibt es davon. Und sie sind nicht symbolisch, sondern funktional - sie werden gewartet, genutzt, eingeplant. Sicherheit ist für die Finnen offenbar eine Frage der Vorbereitung. Das hat mich total beeindruckt. Während wir in Deutschland oft über das Diskutieren nicht hinauskommen, haben die Finnen längst gehandelt. Vielleicht hilft ihnen diese gute Vorbereitung dabei, inneren Frieden zu bewahren.
Aktuell wird auch wieder über die Wehrpflicht diskutiert. Wie schaust du da als Mutter zweier Kinder drauf?
Linda Zervakis: Schwieriges Thema - ich bin total zwiegespalten. Der Gedanke, dass meine Kinder einmal mit der Waffe in der Hand unser Land verteidigen müssten, ist für mich unerträglich. Aber wir müssen auch der Realität ins Auge schauen. Wer führt den Kampf, wenn wir angegriffen werden? Die Diskussion über eine Wehrpflicht, ob sie nun freiwillig heißt oder nicht, ist wahrscheinlich in der aktuellen Lage unausweichlich. Aber ich tue mich schwer mit einer eindeutigen Haltung in dieser Debatte.
Wie schaffst du es trotz der Auseinandersetzung mit Krisen und Bedrohung optimistisch zu bleiben?
Wie gesagt, ich habe zwei Kinder. Ohne Optimismus kann und will ich sie nicht großziehen.
Zervakis' zwei neuen Reportagen im Herbst:
Am Montag, 24. November läuft "Linda Zervakis. Dumm, dümmer, Deutschland? Raus aus der Bildungskrise!" um 20:15 auf ProSieben und gleichzeitig im Livestream auf Joyn.
Am Montag, 27. Oktober 2025 ist "Linda Zervakis. Under attack - wer Deutschland bedroht und wie wir uns wehren" um 20:15 auf ProSieben und im Livestream auf Joyn zu sehen.
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Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf Joyn.de ('Behind the Screens' Deutschland) veröffentlicht.
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