Neue Reportagen auf Joyn
Exklusives Interview: Thilo Mischke über Grenzerfahrungen und den härtesten Dreh seines Lebens
Aktualisiert:
von André Marston AlvarezDer Journalist und Autor geht auch für seine neuen Reportagen wieder an seine Grenzen.
Bild: ProSieben / Christoph Köstlin
Von den glitzernden Nächten Tokios bis zu den Ruinen des syrischen Bürgerkriegs: Thilo Mischke erzählt im Interview, warum ihn diese Orte nicht loslassen – und wie nah ihn seine neueste Reportage für "Uncovered" an die Grenzen des Erträglichen bringt.
Für "Uncovered" bist du nach Tokio geflogen, um dort die sogenannten Host Clubs zu thematisieren. Das Konzept dahinter ist in Deutschland den meisten nicht bekannt. Kannst du einmal erklären, worum es dabei geht – und was dich dort am meisten verblüfft hat?
Thilo Mischke: Host Clubs sind Orte für einsame Großstädter, an denen Nähe, Liebe und Zuneigung verkauft werden. Das Problem ist, dass man aus allem ein Geschäftsmodell machen kann. An Konversationen und Zuneigung ist ja grundsätzlich nichts problematisch. Problematisch wird es dann, wenn es zur Ausbeutung kommt. Die Menschen, die diese Dienstleistungen in Japan in Anspruch nehmen, werden oft ausgenommen, ausgebeutet und ausgenutzt. Diese Gefahr ist dort sehr deutlich. Eigentlich stehen die Host Clubs für die Verrohung des Kapitalismus: Alles, was verkauft werden kann, wird auch verkauft.
In Japan gelten gesellschaftliche Regeln von Nähe und Distanz, die sich stark von unseren unterscheiden. Wie schwer war es, überhaupt Zugang zu dieser Welt zu bekommen – und wie offen haben die Menschen mit dir gesprochen?
Thilo Mischke: Das Gute ist, dass wir schon mehrfach in der Vergangenheit für "Uncovered" und auch für andere Filme in Japan waren. Wir haben Kontakte – sowohl zu hohen Yakuza als auch zum Staat. Ich dachte, es würde schwerer werden, mit Betroffenen zu sprechen, aber das war gar nicht so. Viele hatten ein großes Bedürfnis, darüber zu reden, was ihnen passiert ist – damit es anderen eben nicht passiert.
Streame hier direkt die Reportage:
Thilo Mischkes Faszination für Japan
Du hast Japanologie studiert und warst schon mehrfach für Drehs in Japan. Was genau macht für dich den Reiz des Landes aus?
Thilo Mischke: Die Antwort ist langweilig, aber ich sage sie trotzdem: Ich liebe japanische Literatur – nicht Mangas, sondern wirklich Bücher. Sehr früh habe ich angefangen, japanische Autoren zu lesen, und fand ihre Literatur ganz anders als die europäische. Über diese Liebe zu den Schriftstellern bin ich zum Studium gekommen. Und über diese Liebe zu den Büchern ist auch meine Zuneigung zum Land und zu dieser sehr umsichtigen, ruhigen Kultur entstanden.
Und dann natürlich dieser Bruch der Wirklichkeit, wenn man in einem Host Club ist – weil es einfach so anders ist, als das, was man von Japan denkt. Es ist eine ganz andere Welt, und das ist sehr reizvoll.
Du hast einmal gesagt, dass du dich in Tokio zuhause fühlst wie in Berlin. Woran liegt das?
Thilo Mischke: Man wird in Ruhe gelassen. Ich liebe an Berlin, dass man in seinem Kosmos lebt und seinen Frieden hat. Das ist das Tolle an dieser Stadt – es gibt keine Verpflichtung zu sozialem Kontakt. Man kann einfach untertauchen und verschwinden. Und Tokio ist ähnlich, nur größer: Es gibt keine Metropole auf der Welt mit so vielen Menschen – ich glaube, dort leben rund 37 Millionen – und trotzdem ist es überall so leise wie in einem Park, selbst an der berühmten Shibuya-Kreuzung. In Tokio wird man eins mit dieser Stadt, mit den Menschen, mit dem Lebensgefühl. Das entspricht meinem Lebensgefühl von zu Hause – von Berlin.
Wie sieht dein perfekter freier Tag in Tokio aus?
Thilo Mischke: Als ich noch geraucht habe: 100 Zigaretten in einem Yakuza-Café rauchen. Ich hoffe, dass es das noch gibt, denn jedes Mal, wenn ich da bin, gehe ich ängstlich hin und bin erleichtert, wenn es noch existiert. Ich sitze dort, lese, trinke Kaffee – früher habe ich dabei viele Zigaretten geraucht, heute natürlich nicht mehr. Meistens schreibe ich dort, beginne ein neues Buch oder korrigiere eines. Manchmal fliege ich sogar nach Tokio, nur um genau das zu machen.
Syrien: Thilo Mischkes emotionalster Dreh
Eine weitere Reportage von dir, die bald erscheint, trägt den Titel "Spurlos verschwunden – der Deutsche aus dem Folterknast" (ab 10. November auf ProSieben und Joyn). Der Film handelt von Martin Lautwein, einem Freund von dir, der 2018 als Mitarbeiter einer Hilfsorganisation für 48 Tage in einem syrischen Geheimdienstgefängnis inhaftiert war. Seit wann kennst du Martin – und wie ging es dir, als du seine Geschichte zum ersten Mal gehört hast?
Thilo Mischke: Das ist einer der besondersten Filme, die wir je gemacht haben. Er ist sehr berührend – und man versteht durch ihn, was in Syrien los ist und wie gefährlich das Land für Oppositionelle ist. Die Freundschaft zu Martin ist erst auf dieser Reise entstanden. Wir kannten uns vorher, haben uns gut verstanden. Aber als Berliner gehe ich sparsam mit dem Begriff "Freundschaft" um. Wenn man aber gemeinsam in einer Folterzelle steht und erfährt, dass diese Person dort 48 Tage unter schlimmsten Umständen gelebt und versucht hat, sich zu suizidieren – dann gibt es nur einen Ausweg: Freundschaft. Die Umarmung ist in dem Moment das Einzige, was hilft.
Wir kennen uns aber schon länger. Er war früher unser Sicherheitsmann auf den Corona-Demos. Wir haben uns super verstanden, weil er nicht der typische Sicherheitsmann war – eher ein cooler Typ. Er hat nicht rumgeprahlt, sondern einfach darauf geachtet, dass uns nichts passiert. Nach einer Demo saßen wir im Auto, und er erzählte plötzlich seine Geschichte. Seitdem wussten wir: Daraus müssen wir etwas machen. Das müssen wir erzählen.
Warum genau seid ihr beide für den Film erneut nach Syrien gereist?
Thilo Mischke: Wir wollten Martins Geschichte erzählen – und vor allem zeigen, welche Menschenrechtsverletzungen in syrischen Gefängnissen stattfinden. Wir haben zwei Jahre recherchiert, ursprünglich mit der Idee, den Folterer von Martin zu finden. Er war unter dem Namen "Ferrari" bekannt, weil er eine Mütze mit diesem Schriftzug trug. Diesen Mann wollten wir finden.
Wir sind nie davon ausgegangen, dass wir tatsächlich je nach Syrien reisen können, um dort zu recherchieren. Aber als letztes Jahr das Assad-Regime gestürzt wurde, sind wir drei Tage später vom Libanon aus nach Syrien gefahren – um in diese Zelle zu gelangen, an Akten zu kommen, mit Menschen zu sprechen und Kontakte zu finden.
Wie war es für dich, dort zu sein – genau in dem Moment, als das Regime gestürzt wurde? In welchem Zustand hast du das Land erlebt, und welche Bilder gehen dir bis heute nicht aus dem Kopf?
Thilo Mischke: Für uns alle war das bis heute die schwerste und verletzendste Recherche. Wir kamen alle sehr krank zurück – krank von dem, was wir in diesen Gefängnissen erlebt haben. Dort sind verzweifelte Eltern, die ihre Kinder suchen, Familien, die realisieren, dass ihre Kinder tot sind. Neben uns brachen regelmäßig Menschen zusammen und schrien.
Im Gefängnis Sednaya waren Löcher im Boden, weil Eltern, die ihre Kinder verloren hatten, nicht akzeptieren konnten, dass sie tot sind – und glaubten, unter dem Gefängnis gebe es geheime Verliese. Also buddelten sie Löcher, in der Hoffnung, ihre Kinder zu finden. Eine Frau hielt eine vom Galgen abgeschnittene Schlinge in der Hand und sagte: "Hiermit wurde mein Kind erhängt, damit erhänge ich jetzt Assad."
Wir waren zwölf Tage in Syrien, und jeder Tag war voller solcher Situationen. Da war nichts von dem großen Glück und der Erleichterung, die man in den Nachrichten gesehen hat. Das ist ein Land voller traumatisierter Menschen, dessen kaputte Seelen erst wieder aufgebaut werden müssen.
Thilo Mischke und Martin Lautwein im Frühstücksfernsehen
Demokratien als Auslaufmodell?
Und dann noch dein dritter Film in diesem Herbst: "Dikta-Tour – das Comeback der Autokraten (ab 1. Dezember auf ProSieben & Joyn): Zu keinem Zeitpunkt in den vergangenen 20 Jahren wurden so wenige Staaten demokratisch regiert wie heute – Tendenz steigend. Laut Studien wünschen sich 17 % der Deutschen einen starken Führer, und jeder Fünfte zeigt sich offen für eine Diktatur. Ist Demokratie ein Auslaufmodell – oder wie erklärst du dir diese Entwicklung?
Thilo Mischke: Ich habe versucht, die Antwort auf diese Frage zu finden. Der oberflächliche Blick sagt: Ja, Demokratien sind ein Auslaufmodell, weil sich einfache Wahrheiten für komplexe Probleme leichter verkaufen – und leichter in der Gesellschaft verankern – lassen. Das sage ich völlig wertfrei. Ich kann das total nachvollziehen, einfach menschlich: In dieser komplizierten Welt gieren wir alle nach einfachen Lösungen. Auch ich tue das. Deswegen glaube ich, dass wir aktuell in einer Phase sind, in der Demokratien tatsächlich ein Auslaufmodell sein können.
Du warst für die Reportage in Ungarn, El Salvador und in den USA. Welche Gemeinsamkeiten konntest du dort erkennen?
Thilo Mischke: Was mir aufgefallen ist: Diese Nationen – El Salvador, die USA, Ungarn, aber auch Deutschland und Frankreich – die in eine andere Richtung kippen, berufen sich auf ihren Nationalstaat und lehnen die Globalisierung ab. Gleichzeitig nutzen sie aber eine globalisierte Idee, ein ähnliches Playbook, um Demokratien zu schwächen und autokratische Strukturen zu fördern.
Zum Beispiel berufen sich El Salvador, die USA und Ungarn plötzlich auf christliche Werte. Es werden Feindbilder geschaffen, die in allen drei Ländern dieselben sind: Erst waren es Muslime, dann Migranten, jetzt sind es queere Menschen oder jene, denen man Antifaschismus unterstellt. Man braucht immer ein Feindbild – und alle machen das gleich. Es ist interessant zu sehen, dass das eine Methode ist, keine sinnvolle Lösung von Problemen.
Du arbeitest aktuell an einem neuen Buch. Kannst du dazu schon mehr erzählen?
Thilo Mischke: Es wird ein Buch über Stille – und über die große Sehnsucht, die wir alle gerade haben. Aber ich glaube, es wird anders, als man erwartet. Es ist kein Ratgeber nach dem Motto "Geh in den Wald und setz dir Noise-Cancelling-Kopfhörer auf". Es geht eher um die Frage, ob wir es überhaupt ertragen, wenn es plötzlich still wird. Das ist die große Frage.
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Dieser Beitrag wurde ursprünglich auf Joyn.de ('Behind the Screens' Deutschland) veröffentlicht.
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